Vorwort 2021

(Demien Bartók, *1986 in Ostdeutschland, [div], als Schriftsteller und Musiker Teil der Zivilgesellschaft, außerdem Mitglied des Kollektivs "Die Blühenden Landschaften")

Dieser Blog repräsentiert den Textkörper von Demien Bartók, der sich aus verschiedenen Textorganen zusammensetzt. Seit Anfang des Jahres 2021 habe ich eine neue Schreibroutine entwickelt, die Teil einer neuen Tagesroutine ist: anders als in den vergangenen Lotterjahren schreibe ich nun täglich an meinem Textkörper, indem ich all meine auf verschiedenen Blogs und Notizzetteln verstreute Textfragmente verschiedenen Kapiteln ("Organen") zuweise. 
Die wesentliche Substanz meines Textkörpers setzt sich zusammen aus





wird zentrale Texte zu einem alltagspraktischen Buch über eine gute Lebensführung zusammenstellen. Hier wird exemplarisch eine Tagesstruktur auf Basis humanistischer, progressiver Werte entwickelt, die helfen soll, konsequenter und lustvoller zu leben und einen sinnvollen Beitrag zur Weltgeschichte zu leisten.

Mein Textkörper ist eine immerwährende Baustelle, niemals darf eine finale Form behauptet werden, jede Struktur ist nur vorübergehender Natur, aber schön und lesbar und vorallem nützlich will ich meinen Textkörper! Anstatt regelmäßig neue Werke zu schreiben, schreibe ich lieber an einem einzigen, großen, für alle sichtbaren Textkörper, der die richtigen Worte an den richtigen Stellen hat, der von allen Seiten angeschaut werden, aber nicht linear von vorn bis hinten gelesen werden kann wie ein Buch.

Ich werde also die ersten Monate des Jahres 2021 damit verbringen, wichtige Texte der letzten Jahre zu einem einzigen Textkörper zu organisieren. Der Beginn der Zwanziger markiert bei vielen meiner Freunde eine neue Ära, aus ganz unterschiedlichen, vielleicht bald ans Licht kommenden Gründen. Es ist die Zeit, gründlich über unsere Begriffe und unsere Praktiken nachzudenken, aufzuräumen mit Vorurteilen über die Welt und eine neue Ordnung im Denken zu probieren, neue Hoffnungen schöne Werte und Werke folgen zu lassen.Wir haben uns die Welt lang genug von den alten Idealisten erklären lassen und uns von ihren Begriffen erniedigen lassen.

Es gibt Gedanken und Handlungen: die Teil einer gründlichen Verbesserung der Welt sind, und welche, die es nicht sind. In ewiger Ermangelung eines objektiven Richters, finden wir uns mit unserem wilden Geschmack ab: die Welt wird uns besser, wenn sie freundlicher wird, besser riecht, wenn der Reichtum gleich verteilt ist, wenn sie viel Grund und Raum und Zeit bietet für lustvolles Forschen, für globale Festivals und purpurnem Müßiggang; und die Welt wird sich für uns verschlechtern, wenn sie nicht besser wird. Also heißt es: immerfort gute Vorschläge machen, immerfort an Modellen und Utopien und Theorien arbeiten, immerfort sichtbar und hörbar bleiben.

Die tägliche Arbeit am Selben, regelmäßiges Quälen der Begriffe und Nerven, eine Maschine der lust- und schmerzerfüllten Kreativität, ein geöltes Uhrwerk, ein Pferd, das sich martern lässt von seiner eigenen Kraft und Geschwindigkeit, ein Haus, das langsam von innen vermodert, auf den richtigen Windstoß wartet, ein unsicheres Schieben stabiler Begriffe gegen andere stabile Begriffe, das ständige Widerstehen gegen alte und neue Vorurteile, das Hegen und Pflegen bestimmter Laster und Ängste, das unruhige Schlafen, der Überdruss an dieser Stadt und die Liebe.

 

Die gute Routine

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Die gute Tagesstruktur
In den letzten Tages des Jahres 2020 habe ich mir eine tägliche Routine erarbeitet, die mich in die Lage versetzt hat, meine Worte, Töne und Ideen zu konzentrieren. Das dreckige Virus hat mich gezwungen, mich monatelang um mich selbst zu drehen: im Dezember erkannte ich voller Schrecken meine zwei verbliebenen Optionen: neue Befehle erfinden und befolgen, oder von der Zimmerdecke erschlagen werden. Nicht realistisch genug für letzteres, erfand ich mir also folgende Tagesstruktur:

08uhr deutschlandfunk & bathtube
10uhr jobbing, shopping, sundays praying
14uhr education
16uhr socialisation
18uhr the good dinner (and maybe a rest)
20uhr words/music for change
23uhr meditation or sex
00uhr drugs or sleep
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Indem ich über die Details dieser Struktur nachzudenken begann, begann ich bereits, mein Leben zu organisieren. Natürlich wird es immer auch die Möglichkeit, die Notwendigkeit geben, die Struktur zu verändern oder sogar zu verwerfen. Niemals werde ich den Verlockungen des Fanatismus länger als nötig nachgeben.
Die Struktur wie oben dargestellt kann auch als Inhaltsverzeichnis meines Demien-Bartók-Textkörpers dienen, an dem ich seit Jahren arbeite und der sich immerfort verändert und glücklicherweise nie fertig werden will: aus meiner Tagesstruktur kann ich all meine Werte und Werke ableiten.
Ich glaube, dass wir satten Europäer unsere Lebensweise der letzten Jahrzehne ganz grundsätzlich hinterfragen und nachhaltig verändern müssen, wenn der Planet auch in hundert Jahren noch glückliche Menschen beheimaten soll. - Meine Vorschläge, Phantasien und Zweifel sind konstruktiv gemeint.
Hat jemand schlechte Werte und eine miese Ästhetik und böse Absichten, dann kann eine Tagesstruktur nach meinem Vorbild schlimmstenfalls dazu führen, dass er oder sie die Welt noch hässlicher und schlimmer macht. Eine Struktur ist nur so gut wie die Werte, die ihr zu Grunde liegen.

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01 Gutes Erwachen
(Träume, Bett, Schlaflosigkeit als Gefahr)
(Depression, Selbstwert, Sinn des Lebens)
02 in guter Wohnung
(klein, Nähe/Distanz-Gleichgewicht, Zimmerpflanzen, second hand)
03 Gute Medien
(überparteiisch, öffentlich-rechtlich, investigativ, selbstkritisch, undogmatisch, transparent, interaktiv, antifaschistisch)
Der gute Markt
(gute Löhne, gute Arbeitsbedingungen, sinnvolle Jobs)
Die gute Stadt
(grün, öffentliches Wohnzimmer, sozial vernetzt, interkulturell)
(Sozialismus auf lokaler Ebene)
Gute Institutionen
Das gute Europa
Gute Spiritualität
(offen, sozial engagiert, skeptisch, antikapitalistisch)
Gute Bildung
(langsam, lüstern, lebenslang)
Gute Freunde
(Beispiele)
Gutes Essen
(vegan, maßvoll, Tonne)
Gute Kunstwerke
(Die Blühenden Landschaften)
Das gute Wochenende
(Rausch und Askese)
Gute Meditation
(Das Ich und das Nichts)
Gute Liebe
Gute Drogen
(Gras, Pilze, DXM)
Gute Nacht

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01. Januar  2021
7:45 klingelt der Wecker. Voller Tatendrang wühle ich mich durch mein Bett, aufgewühlt von erotischen Träumen und meiner Lust ein rosa Schaumbad zu nehmen, begleitet von den Nachrichten und einem starken Mate mit einem fetten Schuss Ingwersaft. Von der Idee, meinen Alltag zu ordnen, geht ein freundschaftliches Gefühl von Sicherheit aus.

Vorwort 2020

......

Mit fünfzig brennenden Affen
hießen wir das neue Jahr willkommen
das verzweifelte Schreien der Tiere
liefert den Grundton der Zwanziger Jahre
die Flammen lodern in Krefeld
die Flammen lodern in Australien
die Flammen lodern im Amazonas
die Flammen lodern in Nigeria

(verglichen mit dem was noch kommt
war der COVID-Lockdown nur Übung)

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Unfähig ein flammendes Plädoyer für einen Grünen Sozialismus und ein Global Village zu halten, zu wenig trau ich meinen Mitmenschen zu, zu bösartig ihre psychologischen Schäden, aber auch nicht fähig, das zivilisatorische Projekt, die Werte der Aufklärung aufzugeben, während im Hinterkopf die Gewissheit flackert, dass meine Mitmenschen nicht phantasievoll, nicht entspannt und neugierig und fröhlich genug sind, um eine schöne kommunistische Weltgemeinschaft aufzubauen, und überhaupt nicht willens, dieses deprimierende Schwanken zwischen Revolution und Pessimismus bis ans Ende meiner Tage durchzuhalten, löse ich mich von meinem Wunsch, entweder eine politische Agenda oder misanthropisches Manifest zu schreiben und wende mich nun ganz den Songtexten zu. Niemand liest heute Bücher; Lieder sind alltäglicher als Bücher. Die, auf die es ankommt, lesen keine Bücher oder Blogs. Die auf die es ankommt, kann man am besten mit Musik erreichen. Möglicherweise ist all mein bisher Geschriebens der Steinbruch, aus dem ich meine Liedtexte haue und dann später, manchmal Monate später, in Melodien oder Loops oder Beats flechte / presse. Ich bin immer schon entsetzt gewesen, dass die Jugendkultur meiner Generation so arm ist. Rock-und Popmusik stagniert seit Jahren, der Geist der Jugend ist hungrig und bekommt nur Scheiße vorgesetzt. Ich bin einer von Vielen, für die Musik weder eine Ware ist noch ein Werkzeug, um pure Aufmerksamkeit von allen zu bekommen. Meine Bescheidenheit ist ein warmer Teppich für schlafwandelnde Barfüßler: ich möchte lediglich von bestimmten Menschen gehört und verdaut und kritisiert und ausgeschieden werden. Ich schreibe nicht für Kritiker oder eine anonyme Konsumentenmasse, auch wenn sie gern etwas abhaben können von mir: ich ziele auf die Herzen bestimmter Leute, die einen gewissen Einfluss haben, ich möchte mich in die Tagträume der Söhne und Töchter von Staatsbediensteten schleichen, ich will Journalisten mit bestimmten Gespenstern bekannt machen und Friede zwischen den Hütten schüren und dem Palast Feuer stiften.

Ich habe ein klares Bild von dem Europa, in dem ich leben will. Ich weiß, wer dieses Bild teilt und wer nicht. Meine Propagandatexte sollen wie zärtliche Katzen zwischen den Beinen der Zuhörer schleichen, sie müssen nach bunten Herbstblumen riechen, müssen Melancholie verbreiten und Zweifel nähren. Eine Revolution kommt ohne Dogmen aus, wenn sie ästhetisch genug ist, um in sich selbst das einzige Dogma zu sein. Die Revolution ist Behauptung und Beweis in einem Streich: sie behauptet Kraft, indem sie Kraft beweist: unsere Kraft, unsere Fröhlichkeit, unsere Schmerzen rechtfertigen unsere Sympathie für umstürzlerische Aktivitäten. Wir sind davon überzeugt, dass wir keine Überzeugung brauchen, denn uns treibt die Notwendigkeit der See, die Notwendigkeit des Vulkans, die Notwendigkeit der  Liebe. Nicht unser Wissen, sondern unser Geschmack hat uns letztlich auf den Kommunismus gebracht. Wir finden ihn ästhetisch, es rührt unser christliches Herz, wenn wir an das Paradies auf Erden denken. Jesus will, dass wir uns in internationaler Solidarität vereinen. Das Königreich ist in uns, nicht über den Wolken. Gott ist ein anderes Wort für Liebe. Der Sitz der Seele ist da, wo Innenwelt und Außenwelt aufeinandertreffen, sagt Novalis, wir können uns nicht begreifen, aber wir können mehr als uns begreifen. 

Textkörper


Schlaflosigkeit ist ein Revolver (2013/14)
http://asomnie.blogspot.de

Blumen & Löcher (2014/15)

https://blumenundloecher.blogspot.de

Die fröhliche Abschaffung von Erfurt (2016/17)

https://dieabschaffung.blogspot.de

Florian Silberfisch hat einen Plan (2018)

https://floriansilberfisch.blogspot.com

Alle Lieder (seit 2012)

http://holterpolter.blogspot.de


Klappentext
https://demienbartok.blogspot.com/2018/12/klappentext.html

Vorwort
https://demienbartok.blogspot.com/2018/12/vorwort.html

Vorwort 2017

"Das Ich entsteht in einer Vermutung über das Ich,
sie fragt nicht, wer ich bin, eher, wer könnte ich sein?"
              - Roger Willemsen, "Momentum"







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Das größte Glück des Menschen ist, dass er nicht bleiben muss, wie er ist, dass er in der Lage ist, sein Bewusstsein und damit sich selbst umzugestalten. Das größte Pech des Menschen ist, dass er abhängig ist von Menschen, die glauben, sich nicht verändern zu können, verändern zu müssen: all das Leid auf der Welt lässt sich darauf zurückführen, dass bestimmte Menschen nicht bereit sind, sich selbst, also ihr Weltbild, ihre Werte und Gewohnheiten und alles was dazu gehört zu erneuern.
Das Wort "Ich" suggeriert, dass es eine feste, immergleiche, zentrale Instanz gibt, die bestimmt, wie man sich verhält, was man denkt und fühlt, doch diese Instanz, diese Substanz gibt es nicht: das Ich ist ein instabiler, dezentraler Prozess, auf den kein Verlass ist, der nicht in Griff zu bekommen ist und den man nicht genügend kommunizieren kann. - In seiner Gesamtheit ist dieses Buch eine Absage an das Konzept einer personalen Identität, ein fragmentarisches Plädoyer für eine experimentelle, abenteuerlustige Nutzung des eigenen Gehirns und einen lustvollen, solidarischen Alltag im fragilen, undurchschaubaren Theater der Zivilisation.
Die zahlreichen Möglichkeiten, das eigene Bewusstsein zu verändern, sind Werkzeuge, um sich zu behaupten und die Welt zu erfahren, sind Genussmittel, die helfen sich und die Welt zu ertragen und sind Waffen, mit denen man sich im Alltag verteidigen und im Notfall auch angreifen kann. Die Wahl der Mittel, die Art und Weise ihrer Anwendung und die Reflexion darüber beeinflussen die Wirkung der Mittel. Es kann gewiss gefährlich sein, bestimmte Mittel zu unterschätzen, aber ist es nicht auch fahrlässig, bestimmte Mittel überhaupt nicht kennenlernen zu wollen wegen bestimmter Ängste oder bestimmter Prinzipien?





Folgende Werkzeuge habe ich in den letzten zehn Jahren schätzen gelernt, um mich grundlegend zu modifizieren und mein Leben neu auszurichten und ihnen widme ich diese Triologie:

- Schlaflosigkeit
- Psychedelika und
- Sozialismus.
Mit dem Buch, das in den von Überdruss und Nüchternheit schlafgestörten Jahren entstanden ist, möchte ich beweisen, dass ich zurecht berentet bin und keinesfalls auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich und glücklich werden kann; mit "Blumen und Löcher" plädoyiere ich für die Zulassung von psychoaktiven Hanfblüten als Antidepressivum und für die Übernahme der Kosten durch die Krankenkassen - die generelle Prohibition demütigt alle, die sinnlos leiden und stellt einen nicht (oder nur von rückwärtsgewandten Pessimisten) hinnehmbaren Eingriff in die Persönlichkeitsrechte eines freien Menschen dar; "Die Abschaffung" behauptet das Menschenrecht auf Dissoziation, indem es demonstrativ die Pflicht bestreitet, "so zu bleiben wie man ist". Ein gutes Leben - und diese Anmaßung rettet mich vor dem traurigen Gespenst Ostdeutschland - ist möglich, wenn man die eigene Empfindlichkeit übersteuert und sich in einer Bürokratie des Mitempfindens solidarisiert mit allen Elenden und Verlierern des Planeten. Mit dieser Trilogie setze ich meinen bürgerlichen und psychologischen Auflösungserscheinungen ein Denkmal, in dessen Schatten ich zur Ruhe kommen und meine Kandidatur als Erfurter Bürgermeister vorbereiten kann.





2

Ich bin sehr froh, in der Lage zu sein, diese Mittel einzusetzen, ich verdanke ihnen, kurz gesagt, meine Emanzipation von der kleinbürgerlichen, lieblosen, hysterischen Mentalität, die im Erzgebirge - von da stamm ich - weit verbreitet ist und zumindest meine ungebildeten, infantilen, niederträchtigen Eltern vollständig im Griff hat. Was das Erzgebirge aus mir gemacht hat, musste ich hassen und ich verdanke es all den großartigen Werkzeugen, dass ich an meinem Selbsthass nicht zugrunde gegangen bin, und nun, seit zehn Jahren lebe ich in Erfurt, weiß ich, was ich mit mir anfangen soll, ich stehe mit beiden Beinen in meiner schiefen, dunklen Welt und mein Gesicht leuchtet, wenn ich mich an die Möglichkeit einer radikalen Verbesserung der Lebenswirklichkeit sämtlicher Menschen der Erde festhalte.
Zu meinem Glück gehört übrigens auch, dass ich weiß, was ich nicht nötig habe, nicht nötig haben will: die üblichen Mittel zur Bewusstseinsverengung: Alkohol, Amphetamine, synthetische Antidepressiva und Opiate; und im weiteren Sinne Ideologien wie Gott, Muttersprache, Vaterland, Wahrheit, Schuld, Erwerbsarbeit, Familie, Popmusik, Autos und Fleisch.





3

Experimente mit dem eigenen Bewusstsein sind große, seltsame Abenteuer - vielleicht die letzten verbliebenen - zu denen sich jeder verpflichtet fühlt, der keinen festen, gemütlichen Platz in der menschlichen Gemeinschaft hat. Die Unsicherheit der eigenen Existenz reizt zum Äußersten: nämlich der Frage nachzugehen, was es mit dem eigenen Gehirn auf sich hat.
"Was bin ich?", "Warum bin ich so und nicht anders?", "Was passiert mit mir, wenn ich mehrere Tage wach bleibe oder mehrere Tage nichts esse oder dieses oder jenes Molekül in mein System installiere?", "Was kann ich ernst nehmen?", "Wem oder was muss ich mich unterwerfen?", "Wie kann ich mein Leben nach meinen Vorstellungen verändern?", "Woher kommen meine Vorstellungen?", "Wer profitiert von meiner Moral?", "Wo genau ist mein Selbst lokalisiert?", "Ist das Ich ein Ding oder ein Prozess oder eine Illusion?", "Wo höre ich auf und wo beginnt die Welt?", "Wer stellt sich diese Fragen?" - Die Vertiefung dieser Fragen hat mir den Boden unter den Füßen weggenommen und hier, in der Schwebe, im Ungefähren, im Missverständlichen, im Vagen, im Unaussprechlichen, im Zwiespalt habe ich endlich den Ort gefunden, an dem ich mich aufrichtig und lebendig und glücklich fühle. Bin ich angewiesen auf Menschen, die mir das glauben?





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Für gewöhnlich nimmt man das eigene Bewusstsein als gegeben hin, man denkt vielleicht gar nicht darüber nach, was es genau ist: erst, wenn man es bewusst verändert, es damit in Frage stellt, wird es zu einem skandalösen Rätsel, wird man selbst zu einem Rätsel, dem niemand gewachsen sein kann. Seit ich zum ersten Mal über dreißig Stunden wachgeblieben bin, weiß ich, dass mein Personalpronomen in Anführungsstriche gehört: "ich" bin viel mehr als der, der ich im nüchternen, ausgeschlafenen Alltagszustand bin, "ich" bin viel mehr als ich sein will, mehr als ich kennen kann. "Ich" kann "mich" nicht kontrollieren, sondern nur beobachten, wie mein Gehirn tut, was es tun muss, wie mein Körper tut, was er tun muss. Wer ist es, der das alles wahrnimmt? Erschöpft von Luzidität sinke ich an den äußersten Rand meiner körperlichen Existenz; organische Masse, verdammt dazu, wahrzunehmen, unfähig, Entscheidungen zu treffen, ausgeliefert dieser Stadt, dieser Wohnung, dieser Sprache, respektlos gegenüber sittlichen und ästhetischen Selbstverständlichkeiten in einem Leben eingeklemmt, das zwischen zwei Unendlichkeiten Nichts eingeklemmt ist, ohne Aufgabe, ohne Haltung, ohne Substanz, ohne Kern, ohne Richtung. Die Schlaflosigkeit hat mich in das formlose, ziellose, endlose Wirrwarr gestoßen, das mich im Innersten zusammenzuhalten scheint; sie hat mir bewiesen, dass ich absolut nichts wert bin, dass überhaupt nichts einen Wert hat und dass man frei nur sein kann, wenn man gleichgültig gegen alles ist, nichts auf sich hält und so wenig wie möglich Spuren im Dasein hinterlässt.
Vor vier Jahren, im Sommer 2014, habe ich Marihuana als Werkzeug entdeckt, mit dem ich diesem Nihilismus, der langsam zu gewaltiger Paranoia und Depression führte, etwas Gemütliches, Schöpferisches, Manisches entgegenzusetzen konnte. Gras stärkte meine Empathie, polsterte meine Zweifel und half mir, mich als Schriftsteller und Musiker wirklich ernst zu nehmen. Ich therapiere mich seither mit diesem Kraut und sowohl mein Psychiater als auch mein Psychotherapeut haben bisher nichts dagegen einzuwenden. Die Heiterkeit und die Gelöstheit können nämlich so weit getrieben werden, dass man sich vorstellen kann, eines Tages Bürgermeister zu werden und die Stadt in ein gemütliches Wohnzimmer für alle zu verwandeln. Nur ein solch unverschämtes Ziel kann einen Verlierer wie mich motivieren, im Laufe des Nachmittags das Bett zu verlassen.





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"Wären doch alle so entspannt und empfindlich und mutig wie ich!", seufzt der illegale Tagträumer im Schatten einer Trauerweide und zieht nochmal an seinem Graspfeifchen. Überfordert, aber heiter, wirr, aber guter Dinge, langsam, aber genau, tollpatschig, aber zärtlich lässt er sich das Leben gefallen, gefällt er sich als sich selbst rätselhafter Teilnehmer an einer sich selbst rätselhaften Menschheit mit ihren rätselhaften Institutionen. "Wenn sich nur mehr Leute über sich und die Welt wundern könnten, ohne sich für eine feste Wahrheit zu entscheiden!", flüstert der Tagträumer, im Stadtzentrum auf dem Rücken liegend, in der Mitte seines Lebens in die Wolken starrend; ein Gieriger von vielen, so offensichtlich, so einfach: ein Vorbild für alle, deren Lebensentwurf in eine Sackgasse aus Fleisch und Zeit geführt hat.
"Du bist nicht gezwungen, weiterzumachen wie bisher! Du kannst alle Werkzeuge ausprobieren, die deine Persönlichkeit verändern!", ruft er denen zu, die sich verlieren müssen, um nicht erniedrigt und gefressen zu werden von der Großen Maschine. "Es ist immer genau die richtige Zeit für gefährliche Experimente! Stabilität und Sicherheit sind Bedürfnisse der Gelangweilten und Erloschenen. Als freier, lüsterner, überempfindlicher Mensch eine Welt wollen, in der alle ein schönes Leben haben, ist ein kleines, harmloses Kunststück, das nur diejenigen verstört, die nicht wissen, was Liebe ist. - Oh! Ihr seid mehr als Ihr glaubt! Zerfasert Euch! Dröselt Euch auf! Springt über die Klippe, denn das wilde Meer wird Euch empfangen ... Macht Euer Leben zu einem Fest für Eure besten Werte! Eure Depression, Eure Dummheit und Gleichgültigkeit sind nur Teil eines Programms, das die Große Maschine in Euer Fleisch installiert hat! Manipuliert das Programm! Stöpselt Euch aus! Behauptet Euch neu und verändert die Große Maschine nach Euren Bedürfnissen! Spielt mit allem! Nehmt nichts ernst außer Eure Neugier und Eure Liebe und lasst Euch gehen!"





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Woran halte ich mich fest? An meiner fadenscheinigen Fähigkeit, Songs zu schreiben und zu performen, und an meiner Zuversicht, eines Tages ein anerkannter Schriftsteller und eines späteren Tages Bürgermeisterkandidat zu werden. Der Weg ist so klar, dieses Buch ist einer von vielen notwendigen Schritten. Wer beim Lesen mindestens dreimal lachen kann, gehört in meinen innersten Kreis und kann sich meiner Liebe und Loyalität sicher sein.





Februar 2018,

Demien Bartók